Inertia - Der Moment vor der Bewegung

Über die Intelligenz der inneren Trägheit

Es gibt Momente im Leben, in denen Menschen genau wissen, was sie ändern müssten oder sollten. Die Beziehung beenden, das eine Gespräch führen, den Job kündigen oder eine alte Gewohnheit ablegen. Die Analyse ist abgeschlossen, die Einsicht ist da, das Verständnis schon lange, die Entscheidung eigentlich gefallen. Und doch: Es geschieht nichts.

Inertia - Das Gesetz der Trägheit

In der Physik beschreibt Inertia das Beharrungsvermögen eines Körpers - die Tendenz, im aktuellen Zustand zu verbleiben, bis eine äußere Kraft einwirkt. Übertragen auf psychische Prozesse zeigt sich dieses Prinzip als innere Trägheit: Das Festhalten an vertrauten Mustern, selbst wenn diese längst nicht mehr dienlich sind.

Die Logik des Nervensystems

Was aus therapeutischer Perspektive zunächst paradox erscheint: Das Verharren in einer schmerzlichen Situationen folgt einer biologischen Logik. Das Nervensystem kategorisiert Erfahrungen primär nach einem Kriterium: Sicherheit und nichts als Sicherheit. Nicht nach subjektiv empfundenen Glück, nicht nach Erfüllung, sondern nach Überlebensfähigkeit. 

Es ist darauf programmiert, Energie zu sparen und Gefahr zu vermeiden. Und das auch dann, wenn diese „Gefahr“ nur in Form eines neuen Verhaltens oder einer ungewohnten Entscheidung auftaucht.

Bekannte Strukturen signalisieren Vorhersagbarkeit. Auch wenn eine Beziehung emotional auszehrt, auch wenn ein Arbeitsumfeld toxisch wirkt - das System hat gelernt, damit umzugehen. Es kennt die Reaktionsmuster, die Bewältigungsstrategien, die emotionalen Kosten. Veränderung hingegen bedeutet Unbekanntes und Unbekanntes aktiviert Alarm.

Darum fühlen sich Veränderung, Neubeginn oder auch nur der erste Schritt manchmal so an, als müsse man gegen eine unsichtbare Wand ankämpfen.

Inertia als Schutzfunktion

Diese Form der Trägheit ist also keine “Charakterschwäche” und kein Aufruf zu mehr Disziplin, Druck oder neuen Gewohnheiten. Sie ist eine hochdifferenzierte Schutzreaktion eines Systems, das über Jahrtausende hinweg auf Gefahrenabwehr hin optimiert wurde. In therapeutischen Kontexten zeigt sich Inertia oft dann besonders deutlich, wenn frühere Veränderungsversuche mit Überforderung, Kontrollverlust oder Retraumatisierung einhergingen.

Das Nervensystem erinnert sich. Es speichert nicht nur bewusste Erfahrungen, sondern auch somatische Reaktionsmuster. Wenn eine vergangene Veränderung - ein Umzug, eine Trennung, ein beruflicher Wechsel - mit massivem Stress verbunden war, wird jeder neue Veränderungsimpuls zunächst als potenzielle Bedrohung gewertet. Und das ist zutiefst menschlich.

Interessanterweise zeigt sich dieses Prinzip auch dort, wo wir es am wenigsten erwarten würden – in Studien zur Produktivität.
Die Neurowissenschaftlerin Anne-Laure Le Cunff, Gründerin von Ness Labs, beschreibt, dass selbst im beruflichen Kontext Aufschub oft ein emotionales Signal ist: ein Hinweis darauf, dass etwas zu viel, zu unklar oder zu bedrohlich wirkt (zum Artikel “Why we wait: Understanding the emotions behind procrastination).

Sie schlägt das sogenannte DUST-Modell vor – vier häufige emotionale Gründe, warum wir ins Zögern geraten:

  • Difficult – weil eine Aufgabe zu groß oder zu komplex erscheint

  • Unclear – weil der nächste Schritt nicht klar genug ist

  • Scary – weil die mögliche Konsequenz Angst macht

  • Tedious – weil etwas schlicht langweilig oder sinnentleert wirkt

Übertragen auf den inneren Prozess bedeutet das: Unser Körper schützt uns vor emotionalem Stress, indem er uns festhält.
Trägheit ist in diesem Sinn keine Blockade, sondern eine Einladung zum Hinsehen. Sie zeigt uns, wo etwas noch zu viel, zu unklar oder zu unsicher ist. Erst wenn Sicherheit im System entsteht, kann Bewegung beginnen.

 

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Warum Willenskraft scheitert

Der klassische Ansatz vieler Selbsthilfe-Konzepte setzt auf Disziplin, Motivation, den "inneren Schweinehund überwinden". Doch dieser Kampf gegen die eigene Trägheit verstärkt oft genau das Problem. Druck erzeugt Gegendruck. Zwang aktiviert Widerstand.

Aus neurobiologischer Sicht bedeutet dieser Kampf: Das System wird in einen Stresszustand versetzt. Und unter Stress greift das Nervensystem bevorzugt auf alte, erprobte Überlebensmuster zurück. Inertia - die Trägheit - verfestigt sich durch Selbstvorwürfe eher, als dass sie sich auflöst.

Therapeutische Zugänge

In der Begleitung von Menschen, die sich in solchen Mustern wiederfinden, geht es nicht um Überwindung, sondern um Verständnis. Die zentrale Frage lautet nicht: "Wie zwinge ich mich zur Veränderung?", sondern: "Was hält mich hier und was fehlt mir noch, um den nächsten Schritt zu gehen?"

Methoden wie systemische Aufstellungen, prozessorientierte Homöopathie, Breathwork oder Körpertherapie können hier Zugänge schaffen. Sie arbeiten nicht gegen die Trägheit, sondern mit ihr. Sie schaffen Räume, in denen das Nervensystem neue Erfahrungen machen kann, ohne sofort in alte Muster zu verfallen.

Veränderung entsteht dann nicht durch Willenskraft, sondern durch die behutsame, wiederholte Erfahrung neuer Sicherheit und Beziehungen, in denen Entwicklung möglich ist. Durch kleine Impulse, die dem System zeigen: Hier ist Raum. Hier ist Halt. Hier darf etwas Neues entstehen.

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Der Moment vor der Bewegung

Inertia ist keine Schwäche, die überwunden werden muss. Sie ist ein Signal, das gehört werden will. Wer sich festgefahren fühlt, kämpft nicht gegen Faulheit oder mangelnden Willen. Das Nervensystem schützt mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen.

Der erste Schritt ist nicht Veränderung. Der erste Schritt ist Verstehen.

 

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Im November teile ich täglich Wissen über das Nervensystem auf Instagram - 30 Tage, in denen wir uns gemeinsam anschauen, wie unser System funktioniert und warum wir manchmal reagieren, wie wir reagieren.

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